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Der vergessene Weihnachtsbaum

 

Alle Bäume im Wald waren schon ganz aufgeregt. Naja, nicht alle. Aber alle, die in diesem Jahr als Weihnachtsbaum für die Stuben und öffentlichen Einrichtungen geschlagen und verkauft werden sollten. Da gab es Nordmanntannen, Blautannen, Edeltannen, Kiefern, Fichten, Blaufichten und Douglasien.

 

Es war Ende November und die zwei Waldarbeiter des Forstbetriebes kamen immer öfter, um Bäume für die Märkte zu holen. Die Auswahl war groß, denn das Waldstück, in dem sie großgewachsen sind, war riesig. Es zog sich einen Kilometer entlang der Straße und führte bis an den Berghang, wo dann die großen Bäume standen.

 

Inmitten von all den unterschiedlichen Bäumchen stand eine Gruppe Fichten. Sie beobachteten das Geschehen genau, denn jeder hier wollte bald als bunt geschmückter Weihnachtsbaum in einer Stube stehen. Einer von ihnen, der kleine Fritz, war ganz aufgeregt.

 

„Letztes Jahr war ich noch zu klein, wie wir alle. Aber dieses Jahr kommen sie hierher und nehmen uns mit. Ich komme bestimmt in eine Schule oder einen Kindergarten. Ich mag Kinder“, freute er sich.

„Und wenn nicht?“, warf Franz ein. “Vielleicht kommst du ja auch in ein Büro. Da gibt es keine Kinder und abends ist auch keiner mehr da. Und dann ist man bis zum nächsten morgen und am Wochenende alleine.“

„Ja, da kannst du dich dann mit den Grünpflanzen unterhalten“, scherzte Fred.

 

Fritz war traurig ums Herz. Mussten die anderen so gemein sein? Er freute sich so sehr darauf, endlich ein Weihnachtsbaum zu sein. Vielleicht holten ihn ja auch nicht die Waldarbeiter, sondern eine Familie mit Kindern, denn man konnte auch privat hier Bäume schlagen.

 

Und so vergingen die Tage. Die anderen machten sich über Fritz lustig und er träumte weiter davon, Weihnachten bei einer Familie in einer warmen Stube zu verbringen. Die Bäume wurden immer weniger, aber weder die Waldarbeiter noch eine Familie interessierten sich für Fritz. Nach und nach wurden alle Bäume um ihn herum geschlagen, in Netze gesteckt und verladen. Nur etwas weiter weg blieben junge Bäume stehen, die noch nicht groß genug waren, verkauft zu werden.

 

Wieder vergingen Tage und Fritz, der als einzige Fichte übrig blieb, war so unendlich traurig, dass er die Waldarbeiter nicht bemerkte, die auf ihn zukamen. Diesmal war der Vorarbeiter mit dabei und sagte:

„Jetzt nehmen wir alle mit. Alle, die noch übrig sind, egal, wie sie aussehen. Diese gehen an den Verkaufsstand vor dem Baumarkt. Und packt sie alle schön in Netze, da sieht man nicht gleich, wie krumm und schief sie sind.“

Die Waldarbeiter sägten alle restlichen Bäume um, auch Fritz, und verpackten sie in Netze und dann auf einen LKW. Er freute sich. Endlich ging die Reise los und es war nicht mehr weit bis Weihnachten.

 

Die Fahrt dauerte nur eine halbe Stunde und alle Bäume wurden lustlos in den umzäunten Verkaufsbereich vor dem Baumarkt geworfen. Der Verkäufer sortierte sie nun nach Größe und Art und wartete auf Kundschaft. Kurz vor dem Fest dauerte es nicht lange und viele Menschen kamen zum Verkaufsstand. Bei einigen waren auch Kinder dabei und die sagten entweder, dass ihnen die Bäume nicht gefallen oder ihnen war langweilig und sie wollten einfach nur nach Hause.

 

Jetzt kam auch eine Familie zu Fritz und wollten ihn gerne ausgepackt aus dem Netz sehen. Der Verkäufer entfernte es und er wurde von allen Seiten inspiziert. Aber er gefiel ihnen nicht. Er war ihnen zu krumm und hatte auf einer Seite zu wenige Äste. Den wollten sie nicht haben und Fritz wurde ohne Netz wieder in die Ecke gestellt.

 

So ging es mehrmals am Tag und Fritz wurde immer trauriger, weil keiner ihn haben wollte. Er würde wohl kein Weihnachtsbaum werden, sondern alleine übrig bleiben und am Ende zu Brennholz geschnitten werden. Der Verkäufer holte ihn gar nicht mehr vor und stellte ihn nun sogar neben die kleine Verkaufshütte, wo ihn kein Kunde mehr sah.

 

Fritz bemerkte, wie die anderen Bäume immer weniger wurden. Morgen war Heiligabend und es waren kaum noch welche da. Hinter dem Absperrzaun stand, wie jeden Tag, ein zehnjähriger Junge und schaute sich die Weihnachtsbäume an. Erst heute wurde er vom Verkäufer angesprochen, warum er da rumsteht. Der Junge sagt nur, dass er Weihnachtsbäume mag, aber seine Familie sich keinen leisten konnte. Aber verschenken wollte der Verkäufer auch keinen Baum.

 

Nun war Heiligabend. Schon am Morgen stand der kleine Junge wieder am Zaun und sah, wie die letzten Bäume verkauft wurden. Nur Fritz blieb immer noch unentdeckt in der Ecke stehen. Ein Mann mittleren Alters wollte gerade mit dem vorletzten Baum den Verkaufsstand verlassen, als er den kleinen Jungen bemerkte.

„Wie heißt du?“, fragte er ihn.

„Ich heiße Friedrich Kramer.“

„Und warum stehst du hier am Zaun?“

„Ich mag Weihnachtsbäume, aber wir können uns keinen leisten. Meine Eltern haben beide Ende November ihren Job verloren. Jetzt wird es keine Geschenke geben für mich und meine Geschwister und einen Weihnachtsbaum auch nicht“, sagte Friedrich traurig.

Der nette Mann überlegte kurz und fragte dann den Verkäufer:

„Kann ich diese letzte Fichte kaufen? Was möchten Sie dafür haben?“

„20 Euro!“, sagte er barsch.

„Können Sie ihn nicht für 10 Euro verkaufen? Es ist schließlich der letzte!“

„Nein, 20 Euro ist der Preis oder er wird zu Brennholz verarbeitet.“

 

Der nette Mann gab ihm das Geld und ging mit dem Baum im Netz zu Friedrich. Fritz war ganz aufgeregt. Es hatte sich doch tatsächlich jemand für ihn interessiert und gekauft. Jetzt wird er doch noch ein Weihnachtsbaum werden.

„So, der ist für euch. Ich trage ihn dir auch nach Hause. Wohnst du weit weg?“

„Nein, nur zehn Minuten von hier. Aber warum schenken Sie uns einen Weihnachtsbaum?“, fragte Friedrich erstaunt.

„Naja, du hast doch gesagt, dass ihr euch keinen leisten könnt. Und ich wollte nicht, dass dieser zu Brennholz wird. Er ist zwar nicht der schönste, aber es wird schon gehen. Es war ja leider auch der letzte, der zu bekommen war.“

„Das ist toll. Da werden sich meine Eltern und Geschwister aber freuen.“

 

Auf dem Weg zu Friedrich nach Hause ließ sich der nette Mann alles über seine Familie erzählen. Nun wußte er alles über die Jobs, die seine Eltern hatten, wie alt seine Geschwister waren und wie sie hießen. Fritz hörte ihnen gespannt zu und freute sich auf die Familie.

 

Friedrich wohnte in einem großen Wohnblock mit vielen Familien. Vor der Tür blieben sie stehen.

„So, den Rest schaffst du alleine. Ich muss jetzt nach Hause zu meiner Familie“, sagte der nette Mann freundlich.

„Dann vielen Dank nochmal. Das ist sehr nett von Ihnen“, bedankte sich Friedrich und schleppte den Baum durch die Tür und in den Fahrstuhl.

 

Als Friedrich den Baum vor sich in die Wohnung trug, staunten seine Eltern und Geschwister nicht schlecht. Aber sein Vater fragte streng:

„Wo hast du den Baum her? Hast du ihn gestohlen? Du hast doch kein Geld, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen!“

Friedrich erzählte ihnen die ganze Geschichte und sein großer Bruder Martin und seine kleine Schwester Lina freuten sich sehr, daß sie nun doch einen Baum zum schmücken hatten.

 

Vater holte den Weihnachtsbaumständer und den Baumschmuck aus dem Keller und alle halfen mit, den Baum zu schmücken. Da gab es eine Lichterkette, Kugeln in allen Farben und Lametta. Fritz freute sich, genauso hatte er es sich vorgestellt, als Weihnachtsbaum in einer warmen Stube bei einer lieben Familie zu sein.

 

Vom Plattenspieler lief leise Weihnachtsmusik. Mutter hatte einen Kartoffelsalat mit Würstchen gemacht und als sie gerade beim Essen waren, klingelte es an der Tür. Da sie niemanden erwarteten, ging Vater zur Tür und rief nach kurzer Zeit Friedrich zu sich.

 

„Friedrich, der Mann hier sagt, er wäre der gewesen, der uns den Baum geschenkt hat. Stimmt das?“

„Ja, das ist er, aber ich weiß nicht mal seinen Namen.“

„Mein Name ist Koller“, sagte der nette Mann.

„Koller? Koller? Das sagt mir doch was“, meinte Vater.

„Ja, mir gehört das Kaufhaus Koller im Stadtzentrum.“

„Das kennen wir. Ich möchte mich nochmal persönlich bei Ihnen für den Baum bedanken. sie haben unseren Kindern eine große Freude damit gemacht.“

„Dürfte ich herein kommen? Ich möchte Ihnen gerne noch etwas geben.“

 

Herr Koller wurde ins Wohnzimmer gebeten und stellte hier eine große Tasche ab. Er begrüßte auch die anderen.

 

„Ihr Sohn Friedrich hat mir von Ihrer Familie und Ihrer Situation erzählt. Da habe ich mir etwas einfallen lassen: für Friedrich habe ich eine Digitalcamera mitgebracht, für Martin einen elektrischen Truck zum selber zusammen bauen, für Lina eine Puppe mit Wechselsachen und für Sie beide einen Gutschein von meinem Kaufhaus.“

Die Kinder öffneten sofort ihre Geschenke, denn ihre Eltern hatte leider keine für sie. Aber sie waren erstaunt über die Großzügigkeit von Herrn Koller und bedankten sich bei ihm.

 

Doch das war nicht alles, Herr Koller hatte noch eine Überraschung für die Eltern:
„Ich habe gehört, dass Sie Frau Kramer Verkäuferin sind? Und Sie sind Haustechniker?“

„Ja, das stimmt. Warum fragen Sie?“, antwortete Herr Kramer.

„Nun, wenn Sie beide möchten, können Sie ab dem ersten Januar in meinem Kaufhaus anfangen. Eine Verkäuferin hat aus Altersgründen aufgehört. Und ein Haustechniker ist mit seiner Familie umgezogen. Ich kann Sie beide gut gebrauchen. Was sagen Sie?“

 

Die Eltern waren sprachlos und Friedrich nahm ihnen die Worte aus dem Mund:

„Sie sagen natürlich ja!“ und alle jubelten auf.

 

So wurde es noch ein schöner Weihnachtsabend. Herr Koller ging zu seiner Familie und lud Familie Kramer vorher noch zum Gänsebratenessen am nächsten Tag zu sich nach Hause ein.

 

Alle waren glücklich, doch am meisten Fritz, die kleine Fichte. Er wurde nicht vergessen und verlebte noch schöne Stunden in der warmen Stube von Familie Kramer.

 

Weihnachten können eben doch Wunder geschehen…

 

 

 

Ragnar Guba, November 2014